21.01.2022
Vom Paradies in die Provinz und wieder zurück. Diesen Weg ging Filippa Niebuhr, als sie zu Weihnachten auf Heimatbesuch in Hannover war. Die niedersächsische Landeshauptstadt und auch ganz Deutschland sind die Hockey-Provinz. Ihr Studienort Louisville in Kentucky/USA dagegen das Paradies. „Ich konnte es am Anfang gar nicht glauben, was da alles für die Sportler getan wird“, sagt die 19-Jährige. Selbst die am besten aufgestellten Vereine hierzulande kämen da nicht mit.
Im August 2021 war sie auf ihre Reise über den Atlantik aufgebrochen – und hatte die sprichwörtliche Katze im Sack gekauft. „Wegen der ganzen Corona-Beschränkungen konnte ich vorher nicht rüberfliegen und mir ein Bild von der Uni machen.“ Nur per Internet waren Gespräche und virtuelle Gänge durch die Uni möglich. „Das war eine absolute Bauchentscheidung“, sagt Niebuhr. Aber eine absolut richtige. „Bei den neuen Teamkolleginnen fühlt sich alles so an, als wenn ich die schon ewig kennen würde. Das sind schon echte Freundschaften. Das erste Semester ist wie im Flug vergangen“, erzählt Niebuhr nach dem ersten halben Jahr in den Staaten. Das zweite Semester, das bis Mai geht und ursprünglich für sie auch noch als Probezeit gedacht war, liegt nun an. Doch weg will Niebuhr schon jetzt nicht mehr. Nach vier Jahren wird sie ihren Abschluss in Psychologie haben. „Vielleicht als Vertiefung Sport-Psychologie. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, die vier Jahre in den USA zu bleiben“, plant sie.
Schon der Anfang in Louisville war ein mittelgroßer Kulturschock. „Meine alte Hockey-Ausrüstung dürfte ich gar nicht mitbringen, weil ich dort komplett neu eingekleidet wurde und nur Sachen vom Ausrüster der Uni tragen durfte“, sagt Niebuhr. Doch die Menge war überwältigend. Schläger, Trikots, Sportanzüge gab es en masse. „Allein an Schuhen habe ich neun Paar bekommen. Eines sogar nur für die Reisen zu den Spielen.“
Auch an der Uni haben die Sportler ein ganz anderes Standing. Bei der Belegung der Kurse haben sie Vorrang vor den „normalen“ Studenten – um den Stundenplan bestmöglich an die Trainingszeiten anzupassen. „Auch von den Professoren wird man als Sportler ganz anders behandelt, und für uns gibt es sogar eine eigene Mensa mit extra Sportler-Essen“, erzählt Niebuhr. Ihre spezielle Kleidung, die sie als Sportlerin auszeichnete, trug sie aus Bescheidenheit zunächst gar nicht – „aber mit ihr wird man doch anders wahrgenommen.“
Bei der Unterbringung gibt es ebenso eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Zweier-Zimmer sind der Standard. Sportler leben dagegen in Apartments mit Küche, Wohnzimmer und plus eigenem Zimmer mit extra Bad für jeden der drei Sportler. „Allein mein eigenes Zimmer ist größer als alles, was ich bisher hatte“, sagt Niebuhr. Aus dem Stauen kam sie auch beim Sport nicht heraus. Immer wieder gab es Großes, Gigantisches, Noch-nie-Gekanntes. Head-Coach an der University of Louisville ist die zweifache australische Weltmeisterin und zweifache Olympiateilnehmerin Justine Sowry, die 128 Mal das australische Tor hütete. Doch die 51-Jährige ist nur ein kleiner Teil des Trainer-Teams. „Wir haben noch vier weitere Trainer, zusätzlich einen Physiotherapeuten, einen Ernährungsberater, einen Team-Psychologen“, zählt Niebuhr auf. Letzterer achtet auch darauf, dass trotz des Sportes das Studium nicht zu kurz kommt und hilft bei schlechteren Leistungen abseits des Trainingsplatzes.
Filippa Niebuhr im Dress ihrer beiden Hockeyheimaten. Fotos: Abromeit, privat
Und dann gibt es noch einen Extra-Trainer, der nur die Trainings- und Spieldaten analysiert. „Wir müssen alle einen Sport-BH mit integriertem GPS-Sender tragen – allerdings nur beim Sport und nicht in der Freizeit“, sagt die Studentin doch etwas erleichtert. So werden Laufstrecken, Kilometer, Pässe, Torschüsse, Treffer und vieles mehr in Statistiken erfasst – und auch das Training darauf ausgerichtet. „Die achten schon darauf, dass wir an den Tagen vor den Spielen nicht zu viel laufen“, sagt Niebuhr. Dass alle Sportsachen nach dem Training einfach in der Kabine gelassen werden und am nächsten Tag gewaschen im Spind liegen, ist beim Louisville-Team ebenso selbstverständlich wie die Übertragung aller Spiele im Fernsehen. Jene bringen durch Sponsoren auch einen Teil der Gelder, mit denen der riesige Sportaufwand finanziert wird. „Ich habe mit der Braunschweigerin Kira Curland bei einem Spiel gesprochen. Sie studiert in Indiana. An meiner Uni ist das wohl noch besser, doch Ausrüstung, Training, Spiele sind auch bei Kira super. Nur haben sie wohl kleinere Zimmer“, vergleicht Niebuhr.
Für sie war der Platz in Louisville aber nicht nur wegen der unbegrenzten Möglichkeiten ein Volltreffer, auch sportlich war er ein Glücksfall. Der der normale Platz eines Freshmen („So heißen alle Studenten im ersten Jahr – auch bei den Frauen“, klärt Niebuhr auf) ist der Platz auf der Bank. Nicht wenige sitzen auch im zweiten Jahr noch viel dort. Nicht so Filippa Niebuhr. „Ich habe alle Spiele mitgemacht – auch wenn ich mich erst an die doch etwas andere Rolle gewöhnen musste, als ich vorher beim DHC (Anm.: Regionalligist DHC Hannover) hatte“, sagt Niebuhr. Denn das Niveau ist doch etwas höher, so irgendwo zwischen deutscher 2. und 1. Liga“, schätzt sie. Niebuhr setzte sich durch. Machte ihre Spiele, schoss fünf Tore und hatte ihren Anteil daran, dass das Louisville-Team die ACC-Meisterschaft (Atlantic-Coast-Conference) gewann. „Wir sind danach erst bei den K.o.-Spielen mit anderen Conferencen gegen Harvard ausgeschieden. Aber wir waren unter den Top Acht der USA“, sagt Niebuhr.
Dass sie viel spielte, ist nur ein kleiner persönlicher Triumph. „Unsere Trainerin achtet schon sehr darauf, dass alle, auch die von der Bank, die gar nicht spielen, genauso zum Team gehören, wie die anderen“, sagt Niebuhr. Neid, Eifersucht oder Missgunst gibt es einfach nicht. Wer besser ist, spielt mehr. Wer auf der Bank sitzt, feuert das Team mehr an. Auch das ist neu. Das Team ist das wichtigste.
Das gilt natürlich auch für die anderen Teams der Uni. „Wir haben auch Kontakt zu den anderen Sportlern. Lacrosse und Fußball-Teams unterstützen wir auch, wenn wir die Zeit haben. Aber den Großteil verbringen wir schon unter uns“, sagt Niebuhr. Nur an Halloween und Thanksgiving, die beiden größten Feste in den USA, ist der Sport Nebensache. „Da hatten wir auch danach einen Tag frei“, sagt Niebuhr.
Die Stippvisite in der alten Heimat war für Niebuhr fast wie der Blick in die Hockey-Steinzeit. Dennoch genoss sie es. Vier Wochen war sie vielbeschäftigt: Alte Freundinnen treffen, die DHC-Mannschaft wieder sehen und auch ein Punktspiel bestreiten. Im Regionalliga-Spitzenspiel der bis dato ungeschlagenen Teams gegen den Bremer HC steuerte sie das wichtige 3:4 zum letztlichen 5:4-Sieg bei. Ganz ohne Laufweg-Überwachung, Torschuss-Zählung und nur mit einem Trainer. Doch die fünf Treffer konnte Peter Busche noch selber zählen. „Ich war ja echt froh, dass sie in diesem Spiel auch uns helfen konnte“, sagt der DHC-Trainer. Den Gefallen, noch weitere Spiele zu absolvieren, tat ihm seine Nichte aber nicht. Nach vier Wochen in der Provinz flog sie wieder ins Paradies – auch wenn da doch nicht alles besser ist. „Die haben da Schnee und Minus-Grade“, sagt sie vor dem Abflug. In Hannover war es dagegen an diesem Tag etwas wärmer.
Matthias Abromeit
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