05.01.2023
Vor elf Monaten hat André Henning den Posten des Bundestrainers der deutschen Herren-Nationalmannschaft übernommen. Jetzt steht für ihn und sein Team mit der 15. Herren-Weltmeisterschaft die erste große Bewährungsprobe bevor. Vor dem Abflug der DHB-Delegation nach Bhubaneswar führte DHZ-Redaktionsleiter Uli Meyer mit André Henning ein Interview. Dabei sprach der 39-Jährige darüber, was ihn optimistisch stimmt und worauf es ankommen wird, um ein erfolgreiches Turnier zu spielen. Im Idealfall schließt sich in Indien ein Kreis: Vor zehn Jahren holte André Henning als Trainer der deutschen U21-Auswahl in Neu Delhi den letzten Feld-WM-Titel einer deutschen Hockeymannschaft. Immerhin acht Spieler des aktuellen WM-Kaders (M. und T.Grambusch, M.Müller, Oruz, Tropertz, Rühr, Wellen, Windfeder) haben mit ihrem damaligen und wieder neuen Coach diese gemeinsame Erfahrung gemacht.
Herr Henning, am kommenden Freitag geht die Reise nach Indien los. Steigen Sie mit dem Gefühl in den Flieger, dass eine optimale WM-Vorbereitung hinter dem deutschen Team liegt? Oder hätten Sie gerne noch mehr Trainingszeit und Testspiele mit Ihrem WM-Kader gehabt?
ANDRÉ HENNING: Wahrscheinlich will jeder Bundestrainer immer mehr Zeit mit dem Team. Das wäre mir über das Jahr verteilt auch lieb. Aber wir hatten seit Ende Oktober drei große Maßnahmen mit der Pro League in Argentinien, anschließend einem klassischen Arbeitslehrgang und dem Sieben-Nationen-Turnier in Spanien. Was die Jungs seit Ende Oktober geleistet haben, ist eher über dem erwartbaren Limit. Mit der direkten WM-Vorbereitung sind wir zufrieden, sowohl was Umfang als auch was Qualität angeht. Gleichzeitig bleibt es Fakt, dass die anderen Top-Nationen zentral trainieren, dadurch regelmäßig, also wöchentlich. Diese Möglichkeit fehlt uns. Wir trainieren verhältnismäßig wenig zusammen. Das ist gleichzeitig ein Fakt, den wir akzeptiert haben und stattdessen die Vorteile in unserem System herausfiltern. Aus unseren Möglichkeiten haben wir eine Menge herausgeholt.
Die große Generalprobe war das Turnier in Cadiz. Bei dieser Zusammenkunft von sieben WM-Teilnehmern hat Ihre Mannschaft kurioserweise gegen sämtliche WM-Vorrundengegner gespielt. Welche Erkenntnisse haben Sie aus der Cadiz-Woche gezogen (was die eigene Mannschaft angeht, aber auch die Gegner)?
Wir sind in vielerlei Hinsicht stabiler und in wichtigen Bereichen besser geworden. Unsere Konsequenz im gegnerischen Kreis ist höher, wir haben eine deutlich verbesserte Ecken-Defensive, die Athletik und Fitness stimmen, genau wie die Mentalität. Und: Wir haben in vielen Bereichen immer noch Steigerungspotenzial. Die Ergebnisse standen für uns nicht im Vordergrund, daher war es auch eher hilfreich, dass uns noch mal einige strategische Schwächen aufgedeckt wurden. Die können wir bis zur WM lösen. Gleichzeitig brauchen wir auch eine höhere Problemlösungskompetenz während der Partien. Wir haben viele kluge Köpfe, die noch agiler agieren können. Ich habe uns auch angemerkt, dass dieses WM-Team noch nicht viel miteinander gespielt hat und dass noch einige Rollen und Verantwortungen für die heißen Momente geschärft werden müssen. Die Gegner sind letztlich so aufgetreten, wie von uns im Trainerteam erwartet und vorbereitet. Es war eine wichtige Erfahrung, insbesondere die asiatischen Teams auf dem Platz zu erleben, da wir die bislang nicht gut kannten.
Die Parallele mag Zufall sein: Wie vor wenigen Wochen die deutschen Fußballer, so starten auch die deutschen Hockeyherren die WM mit dem Spiel gegen Japan. Was lehrt der Vergleich?
Wir waren parallel zum Fußball-Turnier im Trainingslager. Daher konnte ich das Spiel nicht verfolgen.
Nach der Gruppenphase wird für die Honamas, anders als für die DFB-Elf, die Weltmeisterschaft mutmaßlich noch nicht zu Ende sein, was zum Teil auch dem Modus geschuldet ist, weil beim Hockey auch der Gruppendritte noch weiter im Rennen ist und sich für ein Cross-over-Spiel qualifiziert. Gibt es für Sie eine Art Etappenziel für die Gruppenphase?
Ich bin der Überzeugung, dass Ziele aus dem Team definiert werden müssen. Nur dann wird es auch mit Überzeugung gelebt. Das wäre anders, wenn man externen Vorgaben hinterherrennt. Am Ende sind Handlungsziele ohnehin viel wichtiger, also was muss wer wann genau erledigen, damit er einen Beitrag zum Erfolg leistet. Ob wir dafür Etappenziele als kurzfristigen Anreiz brauchen, entscheidet das Team entsprechend selbst.
Gehört zum Etappenziel auch der Wunsch, die Vierergruppe unbedingt als Erster abschließen zu wollen, um dadurch das Cross-over (eine zusätzliche Belastung und die Möglichkeit, dort aus dem Turnier zu fliegen) zu vermeiden? Vor gut vier Jahren bei der letzten WM in Bhubaneswar schloss die deutsche Mannschaft die Gruppe als Erster (vor den Niederlanden) ab, aber verlor anschließend das Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Belgien?
Belgiens Weg 2018 hat ja gezeigt, dass man auch über das Cross-over Weltmeister werden kann. Trotzdem ist der kürzere Weg jedem Team sicher lieber. Zudem ist ja logisch, dass du jedes Spiel gewinnen willst, wenn du einmal auf dem Platz stehst.
K.o.-Spiele, die es bei großen Hockeymeisterschaften durch Modusänderungen seit 2016 vermehrt gibt, waren in den letzten Jahren – vereinfacht ausgedrückt – keine große Erfolgsgeschichte deutscher Hockey-Nationalteams. Was ist anderen Nationen in solchen Entscheidungsspielen besser geglückt als den unsrigen?
Wenn das so ist, wird es Zeit, dass wir K.o.-Spiele zu einer deutschen Erfolgsgeschichte machen. Ich kann schwer beurteilen, was die anderen Nationen konkret besser machen, aber ich kann beurteilen, was wir können. Selbst wenn die deutschen Mannschaften in den letzten Jahren in Entscheidungsspielen ausgeschieden sind, waren sie vorher oft Gruppensieger und haben in der Regel sehr überzeugend gespielt. Das heißt, die grundsätzliche Hockey-Qualität ist da. Das ist eine gute Nachricht. Dann ist natürlich wichtig, dass wir auch im letzten Spiel in den letzten Minuten noch fit sind. Ich habe den Eindruck, dass harte Arbeit der vergangenen Monate zu einer sehr guten Turnier-Fitness geführt hat. Dann braucht es natürlich auch besondere mentale Stärke. Wir haben mehr als genug herausragende Persönlichkeiten, die bewiesen haben, dass sie dann besonders gut sind, wenn der Druck am größten ist. Jetzt wird unsere Aufgabe, dass die ganzen aufgezählten Stärken kollektiv eingebracht werden, wenn der Druck am größten ist. Ich habe den Eindruck, dass alle Lust darauf haben, genau das unter Beweis zu stellen.
André Henning (Mitte) - ein Coach, der vorangeht, aber bei der Definition von Zielen die Mannschaft in der Verpflichtung sieht. Hier eine Aufnahme vom Mai 2022 in Mönchengladbach. Foto: Sternberger/Archiv
Ein Punkt, bei dem Deutschland in den letzten Jahren keine so verlässliche Waffe hatte wie zum Beispiel Belgien mit Alexander Hendrickx oder Indien mit Harmanpreet Singh, war die Strafecke. Ist der Rückstand durch die Aufnahme von Gonzalo Peillat in die DHB-Auswahl aufgeholt? Sind Sie zufrieden, wie sich dieser Bereich in den vergangenen Monaten entwickelt hat?
Das ist ein Punkt, der in der Fremdwahrnehmung anders eingeordnet wird als bei mir. Deutschland hat bei den Olympischen Spielen in Tokio 13 Ecken-Tore erzielt. Nur Belgien war besser. Wir hatten also mit Lukas Windfeder bereits einen Top-Schützen im Team. Gonzalo Peillat ist auf ganz vielen Ebenen eine riesige Bereicherung, natürlich auch als Eckenschütze, aber er ist auch nicht der Heiland, der uns jetzt im Alleingang zu jedem Titel schießen wird. Die Bürde sollten wir ihm schnell nehmen. Zudem haben wir mit Tom Grambusch einen weiteren internationalen Top-Schützen zurück im Team, und auch Justus Weigand trifft immer mehr. In diesem Jahr haben wir außerdem viel Wert auf Varianten gelegt. Durch die Menge an guten Schützen und die Menge an wirklich bedrohlichen Varianten sind wir schwer auszurechnen. Entsprechend fühlen wir uns gut vorbereitet.
Nach einjähriger Zusammenarbeit ist die WM für Sie und Ihr Team das erste gemeinsame Meisterschaftsturnier. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass Ihre Mannschaft die Drucksituation, die kaum vergleichbar ist mit einem Pro-League-Spiel, wird meistern können?
Was mich optimistisch macht? Die Qualität jedes Einzelnen, nicht nur in Bezug auf Hockey, sondern auch was wir alle an sozialer und emotionaler Intelligenz in die Gruppe stecken sowie die Resilienz, die wir bereits unter Beweis gestellt haben. Und: Wir sind hier in einer ganz neuen Konstellation. Neuer Staff, im Vergleich zu Olympia zehn neue Spieler. Wir sind bei uns, in der Gegenwart, das ist keine Floskel, denn das habe ich in den vergangenen Monaten stets genau so erlebt. Dieses Gekrame und Gerede von der Vergangenheit interessiert wirklich keinen mehr. Uns zeichnet ein klarer Fokus, eine sehr große Offenheit und daraus resultierende Veränderungsbereitschaft aus. Zudem eine Disziplin, die sich nicht wie Zwang anfühlt, sondern eher aus Spielfreude resultiert. Nicht zuletzt erlebe ich die Mannschaft auch unter Feuer und bei Konflikten ohne Gelaber auf den Punkt kommend, konfrontativ und gleichzeitig wertschätzend. Wir bringen also alle Skills mit. Jetzt können wir zeigen, wie wir es gemeinsam und zum richtigen Zeitpunkt zusammenbringen. Garantien gibt es dafür nie, aber wir haben viel dafür getan, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass wir dann besonders stark sind, wenn der Druck am größten ist.
Was gehört, neben einer mentalen Stabilität in wichtigen Turniersituationen, noch zu den Handlungszielen, die Sie von Ihrer Mannschaft in Bhubaneswar/Rourkela erwarten?
Ich lehne mich nicht weit aus dem Fenster, wenn ich sage: Wir können alles sehr gut. Wir sind defensiv extrem stark, mit Ball schwer zu verteidigen, im Kreis immer konsequenter, bei den Ecken haben wir auf beiden Seiten hohe Qualitäten. Unsere Handlungsziele werden darauf abzielen, dass wir das möglichst konstant abliefern. Unser schlechtester Tag bei der WM muss gegen jeden Gegner mindestens zu einem Unentschieden führen.
Außer Martin Zwicker (Silber 2010) und Gonzalo Peillat (Bronze 2014 mit Argentinien) hat noch kein Spieler Ihres Indien-Kaders eine Medaille bei einer Feld-Weltmeisterschaft gewonnen. Ist der Wunsch, in die Medaillenränge zu kommen, der große Antreiber für die Mannschaft? Oder geht es erst einmal nur darum, das ganze Leistungspotenzial auszuschöpfen, einfach so gut wie möglich zu spielen?
Das eine führt ja zum anderen. Im Teilnehmerfeld sind mindestens fünf Nationen, bei denen niemand überrascht vom Hocker fiele, wenn einer dieser Top Fünf Weltmeister würde. Es kann also sein, dass es Teams gibt, die viel richtig machen und dennoch nicht mal ins Finale kommen. Daher ganz klar: Wir kümmern uns um unsere Leistung. Damit haben wir genug zu tun. Diese Leistung muss am oder sogar über dem vermuteten Limit liegen, damit wir eine Chance haben, die anderen Teams aus dem Weg zu räumen. Dabei werden externe Einflüsse auf uns draufhämmern, die sich auch mal wie unüberwindbare Hindernisse anfühlen. Das ist mal der Gegner, scheinbar die Schiedsrichter*innen, mal wir selbst. Wenn wir uns dabei nur mit einem Funken unserer Zielstrebigkeit auf irgendwelche Spielchen einlassen, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg immens. Also nur unsere Leistung ist steuerbar, Erfolg geschieht. Gleichzeitig ist es selbstverständlich so, dass uns hohe Ziele besonders antreiben. Die Jungs haben in den letzten Monaten wahnsinnig viel investiert. Das liegt natürlich daran, dass wir was gewinnen wollen.
Was muss in Indien eintreten, damit der Bundestrainer mit zufriedenem Gesicht die Heimreise antritt?
Wir waren konstant auf unserem höchsten Level, haben unter Druck unsere Bestleistung gezeigt. Und wir haben dicke Spiele in der entscheidenden Phase dermaßen mit unserer Qualität und unserem Willen bearbeitet, dass wir sie auf unsere Seite gezogen haben.
Vielen Dank für das Gespräch!
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