13.02.2023
Zum Glück steht dieses leistungsfördernde Mittel noch nicht auf der langen Verbotsliste des Internationalen Olympischen Komitees und der ihm angeschlossenen Fachverbände. Sonst wäre den deutschen Hockeyherren womöglich der gewonnene Weltmeisterpokal gleich wieder abgenommen worden. Denn im deutschen Team hatte fraglos einer mitgespielt, der übermenschliche Kräfte zu haben schien. Der deshalb über sich hinauswuchs, das Turnier seines Lebens spielte und seine Mannschaft zum Ziel führte. Wenn Liebe und neues Familienglück also zu sanktionierende Mittel wären, dann hätte Niklas Wellen gerade für den wahrscheinlich außergewöhnlichsten und süßesten Dopingfall der Sportgeschichte gesorgt.
Weil er bei der Geburt seines ersten Kindes zuhause in Krefeld nicht dabei sein konnte, da er zum Zeitpunkt der geplanten Niederkunft fernab in Indien die Weltmeisterschaft bestritt, versprach der 28-Jährige vor der Abreise, dass er dann „wenigstens mit der Goldmedaille nach Hause kommen“ und diese dann der jungen Mutter und dem Neugeborenen widmen wolle. Die Messlatte war hoch gelegt. Aber auch die Teamkameraden riefen den WM-Pokal als ultimatives Ziel der Honamas-Mission aus.
Vom indischen Hockey-Verbandspräsidenten Dillip Tirkey (links) durfte Niklas Wellen die Auszeichnung als bester WM-Spieler entgegennehmen. Foto: Worldsportpics
Die schwerste Entscheidung hatte Niklas Wellen viele Monate vor der WM-Kampagne zu treffen gehabt. Als klar war, dass Freundin Kim schwanger ist und der errechnete Termin der Geburt zeitlich mit der Weltmeisterschaft kollidieren würde, da musste die werdende Familie früh die Weichen stellen: Entweder begleitet Niklas die Partnerin bei der Geburt, wie das bei den meisten Vätern in spe der Fall ist, oder der Stammspieler der Nationalmannschaft vertritt bei der WM sein Land und vertraut darauf, dass in der Heimat schon alles in besten Händen sein würde. Beides miteinander zu verbinden, also beispielsweise später zum Team nachzureisen oder zwischendurch einen Kurztrip in die Heimat einzuplanen, musste angesichts von mehreren Tausend Kilometern Luftlinie zwischen Bhubaneswar und Krefeld von vornherein ausgeschlossen werden. „Im Sommer sind Niklas und ich zusammengesessen, wo er das Ganze erzählt hat. Ich bin damals nicht zu hundert Prozent davon ausgegangen, dass er mit zur WM fährt“, sagt Bundestrainer André Henning im Rückblick. Dass der Daumen Richtung Hockey ging, ist im kleinen Kreis festgelegt worden. „Seine Partnerin Kim Draisaitl und Niklas haben die Entscheidung, dass er zur WM fährt, ganz für sich und ohne Familienbeeinflussung getroffen. Sicher hat es eine Rolle gespielt, dass Kim aus einer Profisport-Familie kommt und die volle Rückendeckung ihrer Mutter hatte“, plaudert Dirk Wellen, Niklas‘ Vater, aus dem Nähkästchen. Mag Niklas Wellen in Hockeykreisen schon vor der WM ein bekannter Name gewesen sein (und danach erst!), so ist das bei seinem ein knappes Jahr jüngeren De-facto-Schwager noch eine ganz andere Größenordnung: Leon Draisaitl ist der aktuell bekannteste deutsche Eishockeyspieler, wurde 2020 als erster Deutscher zum besten Saisonspieler der nordamerikanischen Profiliga gewählt und im gleichen Jahr in der Heimat zum „Sportler des Jahres“ gekürt.
Zurück zum Hockey ohne Eis und Puck. Während des fast dreiwöchigen WM-Aufenthaltes in Indien gab es genügend spielfreie Ruhe- oder Trainingstage, an denen Niklas Wellen mit den technischen Mitteln der heutigen Zeit nahezu live die Geburt seines ersten Kindes hätte mitverfolgen können. Aber der kleine Carlo hatte sich die besondere Pointe ausgedacht, dass er genau während der ersten Halbzeit des deutschen Gruppenspiels gegen Belgien der Welt Hallo sagen wollte. Während bei den anderen deutschen Spielern am 17. Januar das Kribbeln in der Magengegend ganz allein durch die bevorstehende knifflige Aufgabe gegen den WM-Titelverteidiger herrührte, musste der von der sich verändernden Lage im Krefelder Krankenhaus informierte werdende Papa mit sich kämpfen, überhaupt irgendeinen Gedanken auf das Belgien-Spiel fixieren zu können. In diesen ungewissen Minuten vor dem Anpfiff und auch nachher in der Halbzeit sei er „emotional total überfordert gewesen“, wie Niklas Wellen später zu Protokoll gab. Tatsächlich konnte Teammanager Eric Langner ihm schon in der Pause die ersten Fotos von Frau und Kind zeigen. Mit dem Handtuch über dem Kopf und Tränen in den Augen bekam der Stürmer von der Pausenbesprechung „überhaupt kein Wort mit“.
Niklas Wellen, Partnerin Kim Draisaitl, der kleine Carlo und der "versprochene" WM-Pokal. Foto: Instagram
Jeder, der die Hintergründe kennt, hätte größtes Verständnis gehabt, wenn Niklas Wellen an diesem Tag eine individuell dürftige Leistung auf den Platz gebracht hätte, weil einfach die Konzentration auf den Sport nicht so da sein konnte wie gewohnt. Doch was machte die deutsche Nummer 9? Wird nicht nur Vater, sondern schießt sein erstes Turniertor und bekommt hinterher von den FIH-Verantwortlichen (die da noch nichts von der besonderen Geschichte wussten) für einen starken Auftritt auch die Auszeichnung „Man of the Match“. Was die Teamkameraden gleich noch zur Verleihung des Sondertitels „Daddy of the day“ an den strahlenden Helden animierte.
Aus Fehlern der Vergangenheit hat nicht nur die deutsche Mannschaft gelernt. Auch im Umfeld zog man seine Lehren aus manch Missglücktem. Als Dirk Wellen vor gut vier Jahren von Deutschland nach Indien flog, da hatte die damalige DHB-Auswahl mit dem WM-Neuling Niklas Wellen gerade die Gruppenphase als Erster beendet und war direkt ins Viertelfinale eingezogen. Vater Wellen wollte vor Ort erleben, wie sein Filius drei heiße Entscheidungsspiele absolviert und im besten Fall am Ende den Weltmeisterpokal in den Händen hält. Der Optimismus war groß, die Ernüchterung danach mindestens ebenso. Deutschland verlor das Viertelfinale (1:2 gegen den späteren Weltmeister Belgien) und musste ohne weitere Platzierungsspiele nach Hause fahren, den enttäuschten Edelfan Dirk Wellen gleich im Schlepptau.
Auf die Wiederholung eines Nur-ein-Spiel-Erlebnisses konnte und wollte der Präsident des Crefelder HTC und des Hockeyliga e.V. diesmal getrost verzichten. Und so hatte Dirk Wellen sich die Option offengehalten, nach Bhubaneswar zu fliegen, wenn die deutsche Mannschaft ins Halbfinale einziehen sollte. Weil wir alle wissen, wie dieses ominöse WM-Viertelfinale gegen England lief, kann man sich bildlich vorstellen, dass zuhause in Krefeld der frischgebackene Großvater Wellen, mit großer Verzweiflung vor dem Livestream sitzend, den Finger vielleicht schon in der Nähe der Löschtaste seiner Flugbuchung platziert hatte.
Es kam zum Glück anders, Dirk Wellen stieg in den Flieger und saß pünktlich zum Anpfiff des deutschen Halbfinalspiels gegen Australien auf der Tribüne. Zusammen mit DHB-Vizepräsidentin Katrin Kauschke und Sportdirektor Martin Schultze hielt der Ligapräsident eine deutsche Fahne in die Höhe. Dass die Fernsehkameras den kleinen deutschen Fanblock so lange im Bild hatten, lag bestimmt auch daran, dass dies ein schöneres TV-Bild abgab als tausende leere Sitzschalen im zum Anpfiff äußerst mager besuchten Stadion (aber das ist eine andere Geschichte).
Unglaublicher Luftsprung nach dem Siegtor im Halbfinale. Foto: Worldsportpics
Wie dieses Halbfinale gelaufen ist und auch das folgende Endspiel gegen Belgien, ist längst bekannt. Wie viele Hockeyfans in der Heimat via Livestream, so konnte Dirk Wellen aus nächster Nähe mitverfolgen, wie Niklas als unermüdliche Spitze des deutschen Angriffs immer wieder Chancen kreierte (die FIH ermittelte ihn zusammen mit dem Inder Abhishek als jenen Spieler, der bei dieser WM mit 31 Kreiseintritten die meisten solcher Aktionen hatte), viele Ecken zog und auch immer wieder wichtige Tore selber erzielte. Im Finale das 1:2, das Deutschland kurz vor der Halbzeit wieder zurück ins Spiel brachte, und davor im Halbfinale sechs Sekunden vor Schluss den 4:3-Siegtreffer. Wobei Niklas mit seinem extatischen Luftsprung samt Schlägerwurf sogar seinen Vater verblüffte: „So einen Torjubel wie nach dem Australien-Tor habe ich von ihm noch nie gesehen. Da war einfach ein paar Prozent mehr Spannung als sonst. Auf dem Weltniveau kann das den Unterschied machen“, so Dirk Wellen. Es war nicht die einzige Veränderung, die der Ligaboss in diesen Tagen feststellte: „Wenn man Niklas so lange beobachtet wie wir Eltern, hat man spätestens ab dem Crossover-Spiel gesehen, dass er anders unterwegs war als sonst: noch einen Tick energischer, motivierter und fokussierter, als wir ihn zum Beispiel bei den Playoffs in Holland erlebt haben.“
In vier von sieben deutschen WM-Spielen wurde Niklas Wellen vom Weltverband zum „Man of the Match“ auserkoren. Da war es am Ende für niemanden mehr eine Überraschung, als sein Name auch bei der Verkündung des Haupt-Individualpreises „Bester Spieler“ der WM ausgerufen wurde. Das Sahnehäubchen einer beeindruckenden Darbietung, wie auch der Bundestrainer feststellte: „Niklas war so ein wahnsinniger Antreiber für uns, hat uns zum WM-Titel getragen, hat tolles Hockey gespielt. Es ist ihm zu gönnen, dass er mit seiner persönlichen Entscheidung sich selbst und uns belohnt hat. Niklas hat das so viel Kraft und Energie gegeben. Die Baby -Story hat uns alle emotionalisiert, wir konnten ihm auch was zurückgeben - eine absolut hollywood-reife Geschichte unseres WM-Sieges.“
Niklas Wellen selber sprach nach dem Finale von den „verrücktesten drei Wochen meines Lebens“. 13 Tage nach der Geburt konnte er dann endlich erstmals das Baby in Händen halten. Und wenige Tage später beim Clubempfang seines Crefelder HTC sagte der glückliche Weltmeister: „Die Medaille gehört zu 91 Prozent meiner Kim, die mir den Rücken so sehr freigehalten hat.“ Im Nachhinein sei es „die richtige Entscheidung“ gewesen, betonte Niklas Wellen im Spiegel-Interview: „Zu Hause ist alles gut gegangen, wir sind Weltmeister geworden – besser geht es nicht.“
Vater Dirk, für den Kim „die eigentliche Heldin dieser märchenhaften Geschichte“ ist, findet die „großartige Liebesgeschichte dieser jungen Familie“ am treffendsten im Songtitel eines 80er-Jahre-Hits der Band Frankie goes to Hollywood beschrieben: „The Power of Love“. Die Kraft der Liebe – das schönste legale Doping. lim
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