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Timur Oruz: „Ich kann froh sein, in der heutigen Zeit zu leben“

10.04.2023

Herren-Bundestrainer André Henning bezeichnet Timur Oruz als „Mittelfeldmotor“ und sieht den laufstarken Modellathleten gelegentlich „wie einen ICE über den Platz rauschen“. Zugleich ist der 28-jährige Weltmeister auch eine Person, der offiziell eine 50-prozentige Schwerbehinderung bescheinigt wird. Über den WM-Triumph und seine Diabeteserkrankung hat der 107-fache Nationalspieler von Meister Rot-Weiss Köln mit DHZ-Redaktionsleiter Uli Meyer gesprochen.

Hockey-Weltmeister – ist einem das noch täglich im Kopf, oder ist gut zwei Monate danach längst wieder der Alltag eingekehrt, und man guckt auch hockeymäßig nach vorn auf die kommenden Aufgaben?
TIMUR ORUZ: Das ist schon noch präsent, und man bekommt es ja – ganz im positiven Sinn – auch immer wieder aufs Brot geschmiert. Ich werde regelmäßig von verschiedensten Seiten darauf angesprochen, was ja auch schön ist. Gleichzeitig geht es jetzt weiter in der Bundesliga, in der EHL und in der Pro League, wo ich zuletzt wegen meines Knies gepasst habe. Der alltägliche Wahnsinn läuft also schon wieder, das ist aber auch in Ordnung. Wir hatten im Januar in Indien eine richtig schöne Zeit und im Nachgang für Hockeyverhältnisse auch eine ganz gute Aufmerksamkeit bekommen. Während des Turniers war es ja leider, was die öffentlich-rechtlichen Anstalten angeht, nicht ganz so der Fall.

Sie haben Ihr Knie angesprochen. Während der WM hat man von außen nichts über neue Probleme gehört.
Mein linkes Knie ist schon ganz schön lädiert. Ich habe jetzt insgesamt vier Operationen hinter mir. 2017 nach dem Kreuz- und Außenbandabriss mit Bizeps- und Tractusriss beim World-
League-Turnier in Indien, danach noch drei Meniskus-OPs. Ich habe links fast keinen Außenmeniskus mehr. Ich muss da meine Kräfte gut einteilen, dass das Richtung EM 2023 und Olympia 2024 noch gut klappt. Die WM war da schon mal ein wichtiger Meilenstein. Sollte es doch nicht mehr weitergehen, dann ist dieser Titel zumindest noch gesichert in meiner Karriere. Aber ich habe schon das Ziel, die nächsten Turniere bis Paris 2024 alle zu bestreiten.

Großer Moment am 29. Januar 2023: Timur Oruz mit dem WM-Pokal in Bhubaneswar. Foto: Worldsportpics

Nochmal zurück zur WM. Der Glaube an den Titel ist ja zwischendurch mehrfach auf harte Proben gestellt worden. Gehörten Sie zu denjenigen, die ihren Glauben daran wirklich nie verloren haben?
Das ganze Turnier und das gesamte Team samt Staff haben sich so gut angefühlt wie schon lange nicht mehr. Das war eine geschlossene Einheit. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert wurden, vor allem die Rückstände in drei K.o.-Spielen, waren auf dem Platz gar nicht mal so dramatisch, wie es vor dem Bildschirm vielleicht wirkte. Das England-Viertelfinale war dabei schon noch mal etwas Besonderes, weil wir dort 50 bis 55 Minuten lang sehr schlechtes Hockey gespielt haben. Und trotzdem gab es da für mich so eine Schlüsselszene, die auch gezeigt hat, wie anders das Team und das Turnier waren. Das war, als Chrissi Rühr fünf Minuten vor Ende den Siebenmeter zum potenziellen Anschlusstreffer verschießt. Normalerweise ist das so ein Moment, wo man dann sagt: Okay, das wird heute nichts mehr, wir schaffen es einfach nicht. Doch in diesem Augenblick war es in Indien einfach so, dass ich das Gespür hatte, und vielen anderen im Team das auch so ging: Okay, jetzt haben wir sie!

Das passt auf den ersten Blick aber nicht zusammen.
Ja, eigentlich ist es paradox. Doch in diesem Moment war mir klar: Wir kriegen euch heute noch. Das war wirklich etwas ganz Besonderes, und wir haben es dann ja auch noch geschafft. Das hat uns dann auch durch die weiteren Spiele getragen. Dass wir im Halbfinale gegen Australien 0:2 zurückliegen, war nach dem Verlauf und wie wir das Spiel kontrolliert haben eigentlich ein Scherz. Und auch gegen Belgien im Finale muss man auch nicht unbedingt zurückliegen. Aber das hat sich auf dem Platz anders angefühlt. Wir sind athletischer, wir sind fitter, wir sind das bessere Team. Mit dieser Überzeugung ging es einfach weiter.

Können Sie denn selbst in diesen Momenten der größten sportlichen Dramatik auf dem Platz an das nötige Überprüfen Ihres Blutzuckerspiegels denken?
Ja, muss ich ja gezwungenermaßen. Ich habe mein Gerät immer in der Hosentasche oder an der Bank mit dabei. Wir haben ja im Hockey das große Glück, dass man mit dem Interchanging alle paar Minuten auch wieder draußen auf der Bank ist. Das ist schon Automatismus bei mir, dass ich schnell meinen aktuellen Wert checke und schnell entschieden wird, ob ich spritzen muss oder was essen muss oder ich es laufen lassen kann. Das ist bei mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Gerade in solchen spannenden Phasen in K.o.-Spielen kommt noch eine besondere Anspannung hinzu, weil da ja auch hormontechnisch etwas passiert und es Auswirkungen auf meinen Zucker hat. Da gab es in der Vergangenheit auch schon das ein oder andere Spiel, das für mich etwas anspruchsvoller zu managen war. Zum Glück war es jetzt nicht das erste Halbfinale oder Finale, in dem ich in meiner Karriere stand. Im Großen und Ganzen war ich in den Tagen der WM recht zufrieden mit meinem Zucker-Management.

Indien ist ja nicht nur klimatisch, sondern auch ernährungstechnisch eine Herausforderung für Diabetesbetroffene wie Sie.
Ja, beides. Auch da profitierte ich bei der WM nach hinten hinaus davon, dass wir schon in der vierten Woche in Indien waren. Da hat man sich körperlich dann schon gut an die klimatischen Bedingungen gewöhnt. Aber gerade in den ersten Tagen ist es für mich immer noch eine zusätzliche Herausforderung, die es zu meistern gilt. Das Thema Essen ist grundsätzlich immer speziell, wenn man in Hotels unterwegs ist, weil man eben nicht weiß, wie manche Speisen zubereitet wurden. Das ist für mich immer ein wenig probieren und ausprobieren. Aber auch das hat sich dann irgendwann eingespielt.

Muss Ihre Diabetes-Erkrankung und die Notwendigkeit des Spritzens auch während des Wettkampfs eigentlich vor Turnierstart bei den Offiziellen angemeldet werden, zum Beispiel jetzt vor der WM?
Wo ich es tatsächlich vorab anmelden muss, das ist bei der nationalen Dopingagentur NADA und international bei der Weltdopingagentur WADA, da bin ich als Athlet auch selber für zuständig. Denn ich benötige für Dopingkontrollen eine Sondergenehmigung. Mannschaftsarzt und Teammitglieder wissen alle, wie es um mich bestellt ist. Zum Glück war es noch nie notwendig, dass ich da gerettet werden musste. Sollte was sein, sind das während des Hockeyspiels diejenigen, die mir am ehesten helfen könnten und müssten. Ein Turnierarzt und noch weniger ein Turnierdirektor sind da nicht so nahe dran.

Gab es schon mal irgendwelche komischen Reaktionen von offiziellen Seiten oder anderer Nichteingeweihten, was Ihre spezielle Situation angeht?
Nein, tatsächlich nicht. Nach Olympia 2016 bin ich ja mit dem Thema etwas mehr an die Öffentlichkeit gegangen. Vorher habe ich mir da nie Gedanken gemacht, dass ich da als Vorbild fungieren könnte. Durch den Film „Ecke, Schuss, Gold“ wurde es thematisiert, da habe ich im Anschluss relativ viele Nachrichten bekommen, gerade von Kids und Jugendlichen aus der Hockeyszene, die mir dann geschrieben haben: Du hast Diabetes, krass, das wussten wir gar nicht! Wie cool, dass man da trotzdem so gut und erfolgreich Hockey spielen kann. Ich dachte: Okay, dann muss ich da etwas tun für den Nachwuchs. Ich habe dann auch von ein paar Gegnern aus den unterschiedlichen Ländern (Belgien, Holland, Australien) Feedback bekommen, die das auch nicht wussten. Es ist ja auch für die kaum sichtbar, was ich da schnell mal mache auf der Bank. Wenn ich mit dem Thema nicht öffentlich umgehe, dann bekommt das am Ende auch keiner mit. Ich werde ab und zu mal komisch angeguckt, wenn ich auf der Auswechselbank ins Handy gucke. Die Situation wird dann meist schnell aufgelöst, meist vom Teammamanager, dass ich da jetzt keine WhatsApp-Nachrichten verschicke oder eine Instagram-Story mache. In der Regel passiert das alles recht unauffällig.

"So gut angefühlt wie schon lange nicht mehr" - Timur Oruz (vorne rechts) fühlte sich bei der WM in einer "geschlossenen Einheit". Foto: Worldsportpics


Kennen Sie welche in der Hockeyszene, die Ähnliches haben wie Sie?
Der 92er-Olympiasieger Carsten Fischer ist auch Typ-1-Diabetiker, international gibt es noch einen Schotten und einen Iren, von denen ich das weiß. Bekannte Leute aus anderen Sportarten sind zum Beispiel Gewichtheber-Olympiasieger Mathias Steiner oder Kickbox-Weltmeisterin Anja Renfordt. Leider gibt es auch einige, die damit nicht so öffentlich umgehen. Ich bin schon der Meinung, dass man da auch eine Verpflichtung hat, den jüngeren Generationen gegenüber das nicht zu verstecken, weil es einfach das falsche Bild abgibt. So etwas sollte man heutzutage nicht verstecken müssen. Also ich bin nicht komplett alleine auf weiter Flur, aber es sind letztlich doch nur ganz wenige, die mit Typ-1-Diabetes sportlich in der Weltspitze unterwegs sind.

Stimmt denn die Zahl von etwa 300 000 Personen in Deutschland, die vom Typ-1-Diabetes betroffen sind?
Je nachdem, welche Quellen man nachschaut, findet man Zahlen zwischen 300.000 und 400.000. Die deutlich höhere Zahl von mehreren Millionen Betroffenen sind die Typ-2-Diabetiker in Deutschland. Da muss man schon ganz klar differenzieren. Es ist zwar beides Diabetes, aber gefühlt ist das schon eine ganz andere Erkrankung. 350.000 ist halt, gemessen an anderen Krankheitstypen, keine so große Zahl, dass da genügend Aufklärung betrieben wird über die Erkrankung. Das reicht einfach nicht, um da Riesensummen reinzustecken. Dabei ist es gerade für Kinder und Jugendliche unfassbar wichtig, dass sie deswegen nicht von Kindergärten und Schulen ausgeschlossen werden.

Man hat Typ-1-Diabetes bei Ihnen als Fünfjährigem diagnostiziert. Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
Ich habe sicherlich extrem davon profitiert, dass meine Eltern beide Ärzte sind, vor allem meine Mutter als Kinderärztin. Auch ohne Diabetologin zu sein, hatte sie bei meinem Krankheitsbild früh einen entsprechenden Verdacht. Ich hatte die klassischen Symptome, musste sehr häufig pinkeln und habe unfassbar viel getrunken, bestimmt sechs bis acht Liter Wasser am Tag. Das liegt einfach daran, dass ich zu viel Zucker im Blut hatte. Die überschüssige Glukose wird dann über die Niere ausgespült. Außerdem war ich oft total müde und abgeschlagen, habe auch an Gewicht verloren. Ich hatte einfach das Riesenglück, dass ich damit nicht über Wochen und Monate hinweg unentdeckt rumgelaufen bin. Es würde sonst irgendwann lebensgefährlich. Meine Mutter hat das also früh erkannt und gesagt, dass wir das abchecken lassen müssen. Und dann kam recht zügig die Diagnose Typ-1-Diabetes heraus.

Wie ist es anfangs behandelt worden, und wie hat sich das im Lauf der Jahre verändert?
Ich kann ja froh sein, in der heutigen Zeit zu leben. Mein Opa war auch betroffen, bei ihm hat man das Insulin noch aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen gespritzt. Letztlich war die Lebenserwartung mit dieser Erkrankung damals nicht so hoch. In meiner Anfangsphase gab es noch recht lange Aufziehspritzen. Das war recht gruselig. Das habe ich aber nur so rund ein halbes Jahr lang mitmachen müssen, danach ging es schon zum Pen, wie ich ihn jetzt nutze. Das sind Sechs-Millimeter-Nadeln, die man kaum sieht und auch nicht sonderlich weh tun. Es hat anfangs angefangen mit dem blutigen Messen an der Fingerkuppe, was man im Volksmund wohl noch am ehesten kennt. Das habe ich einige Jahre gemacht. Ungefähr ab 2015, als die ersten Sensoren in diesem Bereich auf den Markt kamen, habe ich angefangen, Sensoren zu tragen. Das war der nächste Meilenstein. Ein System, das hilft, die Werte zu kontrollieren und gut im Griff zu haben, auch im Sport. Den Sensor kann ich mir selber setzen, da ist am Ende so ein Teflonfaden in der Haut, der meinen Gewebezucker misst. Dafür muss man auch nicht zum Arzt gehen. Man trägt den Sensor entweder am Arm oder am Bauch oder am Rücken. Ich wechsele ihn alle zehn Tage.

Meistens auf der Rückseite des Oberarms hat Timur Oruz seinen Sensor platziert. Foto: Dexcom
 
Ich habe gelesen, dass Sie sich zwischen sechs und 14 Mal am Tag spritzen müssen. Korrekt?
Ja. Es hängt halt davon ab, was am Tag so passiert in Sachen Aktivitäten und auch Essen. Bei nur sechs Injektionen am Tag würde schon sehr wenig passieren, bei mir sind es meist zwischen acht und 14. Sport und Bewegung sind grundsätzlich förderlich, weil man dann auch weniger Insulin braucht. Aber ich gehe ja in einen Bereich rein, der über die normale Bewegung weit hinaus geht. Also wenn ich zwei- oder dreimal am Tag trainiere und dementsprechend auch nicht drei Mahlzeiten am Tag habe, sondern vielleicht noch vier kleine Snacks, beispielsweise eine Banane, dann kann das zwar gutgehen, dass ich dafür nicht spritzen muss. Aber ich habe ja gleichzeitig den Anspruch, dass ich möglichst gute Werte haben möchte. Dann ist neben sechs Mal spritzen am Tag schnell nochmal drei- bis viermal Korrekturspritzen mit nur geringen Dosen angesagt.

Wie verträgt Ihre Haut so eine Dauerbelastung an Spritzen?
Die Spritzen spürt man eigentlich kaum. Klar, über die Jahre hinweg gibt es schon Stellen an den Oberschenkeln und den Armen, die etwas verhärtet sind. Das gehört halt dazu, ich komme klar damit.

Haben Sie Hoffnung auf Alternativen, dass zum Beispiel Tabletten das Spritzen ersetzen könnten?
Nasenspray oder Augentropfen als Alternative zur Insulinspritze hat es in den vergangenen Jahren schon mal als vermeintliche Optionen gegeben, das hat sich aber alles nicht durchgesetzt. Da gibt es die unterschiedlichsten Ansätze in der Forschung. Ich war auch mal im Helmholtz-Institut. Die forschen da auch mit Stammzellen herum und gucken, ob man Diabetes vielleicht sogar mal komplett heilen kann. Manche behaupten, sie wären schon soweit. Ich bin da skeptisch, glaube aber, wenn man diese Krankheit wirklich heilen möchte, dass man das eines Tages auch schaffen kann. Es ist halt immer auch die Frage, ob die Pharmaindustrie ein unbedingtes Interesse daran hat. Schließlich ist Insulin eines der teuersten Medikamente auf der Welt, vor allem auch in Amerika, wo es viele Diabetiker gibt. So einen Markt dann zu verlieren, will auch nicht jeder – das klingt hart, aber so läuft es eben auf unserer Welt. Ich bin gespannt, ob ich das noch erlebe, dass Diabetes geheilt werden kann. Ich erwarte das nicht unbedingt. Aber wenn es soweit wäre, würde ich mich auch nicht beschweren.

Stimmt es, dass Ihnen aufgrund Ihrer Erkrankung eine 50-prozentige Schwerbehinderung zuerkannt worden ist?
Das ist tatsächlich richtig. Das hatte damals auch einen kurzen Streit zwischen meiner Mutter und mir ausgelöst. Als sie das beantragen wollte, habe ich mich total angegriffen und verletzt gefühlt. Ich habe ja selber einen schwerst körperlich und geistig behinderten älteren Bruder. Er ist tatsächlich zu 100 Prozent schwerbehindert. Aber mich danebenzustellen und zu sagen, ich sei zu 50 Prozent schwerbehindert, ist in meinen Augen totaler Quatsch. Ich bin nicht mal zehn Prozent schwerbehindert im Vergleich zu meinem Bruder. Aber diese Einstufung kommt natürlich daher, dass Diabetes eine chronische Erkrankung ist, die Stand heute nicht heilbar ist und ein erhöhtes Risiko für ganz viele andere Erkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Nervenprobleme darstellt. Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, dann kann man tatsächlich von einer schweren Behinderung reden. Ich bleibe aber dabei, dass 50 Prozent schon ganz schön viel ist und für mein jetziges Leben absolut nicht zutrifft.

Ist Sport eher Hilfe oder gefährlich in der Intensität, wie Sie es betreiben? Sind Sie je von Ärzten gewarnt worden?
Als ich mit 14 Jahren meinen ersten U16-Kaderlehrgang hatte, hieß es aus Kreisen von Diabetologen: Leistungssport und Diabetes, das sollte ich lieber lassen. Es macht mich regelecht wütend, wenn das heute zum Teil immer noch behauptet wird. Zum Glück sind das nur ganz wenige, trotzdem höre ich es immer wieder von Eltern und betroffenen Jugendlichen, deren Ärzte davon abraten. Da denke ich: Das darf doch nicht wahr sein! Nochmal: Das, was ich mache, ist auf eine gewisse Weise extrem. Und extreme Sachen sind in der Regel nicht immer die gesündesten. Aber ich würde jedem sagen: Wenn du richtig gesund und perfekt leben willst mit deinem Diabetes, dann mach‘ regelmäßig Sport, dann kannst du auch alles essen und musst auf kaum was verzichten. Und wer den Sport dann so extrem betreiben will, wie ich als Sportverrückter das mache, geht auch das, aber die Aufgabe ist dann eben etwas anspruchsvoller.

Wie steht es um Ihr Medizinstudium?
Ist aktuell ein etwas wunder Punkt bei mir. Wegen der WM musste ich ein Urlaubssemester einlegen. Da hat sich auch einiges aufgeschoben. Meine Uni in Witten ist da leider wenig kooperativ und zeigt wenig Empathie für den Sport. Auch viele Kliniken stellen einen mehr oder weniger vor die Wahl und sagen: Studieren oder Sport. Das ist sehr traurig und für mich auch wieder ein Beweis, dass wir in Deutschland kein wirkliches Sportland sind. Ich überlege ernsthaft, ob es für mich nach acht Semestern noch einen Plan B gibt. Bis Paris werde ich nicht groß weiterkommen im Studium, und irgendwann geht das Rechnen los. Bei dann nochmal zwei Jahren Studium und anschließend dem Praktischen Jahr wäre ich schon Mitte 30, bis ich richtig zu arbeiten anfangen könnte. Nur weil ich dann bestenfalls dreimal bei Olympia war für Deutschland, sehe ich das nicht ganz ein, dass ich dafür so „bestraft“ werde. Also ich kann es gerade wirklich nicht genau sagen, ob ich eines Tages Arzt sein werde. Wenn, dann würde ich am ehesten Richtung Orthopädie/Sportmedizin gehen.

Ihre Schwester hat den ähnlichen Spagat hinbekommen.
Ich habe höchste Anerkennung und Respekt davor, wie Selin das alles durchzieht und gerade im PJ steht. Sie ist da etwas anders gestrickt als ich, hat sich da für einen etwas anderen Weg entschieden und andere Prioritäten gesetzt. Ich könnte das so nicht und würde es auch nicht genau so machen wollen. Nach einem langen Uni-Tag abends noch eine Trainingseinheit dranzuhängen, das reicht heute nicht mehr aus für eine Olympia- oder WM-Vorbereitung. Und der Spielplan in der Pro League wird auch immer fordernder.

Noch ein Blick in die sportliche Zukunft: International soll es für Sie bis Paris 2024 weitergehen. Wie ist es mit dem Vereins- und Bundesligahockey?
Der springende Punkt ist tatsächlich mein Knie. Ich freue mich extrem, wenn EM und Olympia auf entsprechendem Niveau und Leistung noch klappen. Wenn ich in mein Knie reinhorche, stelle ich das manchmal in Frage. Nach Paris 2024 geht es mit der Nationalmannschaft sicherlich nicht mehr weiter. Dann muss ich mir auch den Zustand genau angucken und abschätzen, ob Bundesliga oder was auch immer überhaupt noch Sinn für mich ergibt. Ich will mich da nicht auf irgendwas festnageln lassen, vielleicht kommt auch alles ganz anders mit Beruf oder Familienplanung.  

Vielen Dank für das Gespräch!